Ich will die Sterne wieder sehen - eine Kurzgeschichte

Die Nacht lag klar und herrlich warm vor uns, als wir uns mit einer Tasse Sockentee auf die Terrasse setzten. Den poetisch oft beschriebenen Grillen war es längst zu warm zum Zippen. Dafür feierten um so mehr wild berauschte Mücken die erste heiße Nacht des Jahres. Wie lange ist es her, dass wir hier saßen – ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ist es meiner Demenz geschuldet, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, vielleicht aber auch dem Umstand, dass der letzte Sommer schon so lange her ist. Ich nippte gerade an meiner Tasse als ein Satz die Stille dieser besonderen Nacht durchbrach.

„Ich möchte so gerne wieder die Sterne sehen.“

Ich musste Schlucken, standen sie doch in voller Schönheit oben am Himmel und sahen auf uns herab. „Schau wie schön sie am Himmel stehen, heute scheinen es besonders viele zu sein.“ Ich deutete mit meiner Teetasse nach oben, während ich meinen Bruder von der Seite genau beobachtete.

„Ich weiß,“ sagte er und nahm ebenfalls einen Schluck aus seiner Teetasse. „Meine Augen sehen sie, aber meine Seele, da ganz tief drinnen, kann sie nicht mehr sehen.“

Sein Gesicht wirkte im Schein der Sterne müde. Traurig und unendlich müde. Wir sind gleichalt und doch scheint er in diesem Winter, der nicht enden wollte, um 100 Jahre gealtert zu sein. Was hatte er nur aus ihm gemacht? Was hat er aus uns gemacht? Hatte ich seine gedrückte Laune doch auf das schlechte Wetter geschoben, auf das never ending Grau, das die Welt in den letzten Monaten in Nebel hüllte und kaum Platz für aufkommende Lebenslust ließ. War dieses Grau nun der Grund dafür, dass mein Bruder innerlich kein Licht mehr sehen konnte?

Wir saßen noch lange schweigend da, beide mit unserer Tasse Tee in der Hand und dachten nach. Die Gedanken kamen, ich vergaß sie wieder, doch sie kamen zurück. „Du sag mal, wie fühlt sich das an, wenn die Seele keine Sterne mehr sehen kann?“

Er schaute in die Tasse, als könnte er an den Ringeln der Socke das Wetter der nächsten Tage ablesen. Schließlich schaute er mir in die Augen: „Es fühlt sich kalt an, kalt und dunkel. Früher, weißt du, da habe ich die Sterne so geliebt, ich konnte Stunden einfach dasitzen und ihnen beim Wandern zusehen. Und die Sternschnuppen, die habe ich besonders geliebt.“

Ich sehe eine Träne, die sich im Schein des Mückenlichts spiegelt über seine Wange laufen. „Was wenn ich einfach zu ihnen ginge?“

„Zu ihnen?“ ich verstand zunächst seine Frage nicht und dachte angestrengt nach, wen er meinen könnte. „Meinst du unsere Pflegerinnen?“ Besucher hatten wir beide ja schon lange nicht mehr und zu den anderen Bewohnern wenig Kontakt. Wen könnte er sonst also meinen?

„Nein, ich meine zu den Sternen. Wenn ich ihnen ganz nah wäre, vielleicht könnte ich sie dann wieder Strahlen sehen!“ Plötzlich erhellte sich sein Gesicht und seine Augen funkelten voller Hoffnung.

Ich dachte wieder an den Winter, an den Schnee, die Einsamkeit. Es war still geworden in dem Pflegeheim, in dem wir seit drei Jahren leben – zu still. Bewohner kamen, Bewohner gingen, oft lautlos ohne dass man sie richtig kannte. Eigentlich Schade dachte ich, wie viele wunderbare Gespräche wir wohl gemeinsam verpasst haben, dass ein oder andere herzhafte Lachen nicht lachten?

Ich nahm meinen Bruder fest in meine Arme, eine Mücke quietschte als hätte ich sie dabei erdrückt. Leise, aber bestimmt flüsterte ich ihm ins Ohr: „Ich verspreche dir, ich hol dir die Sterne zurück in deine Seele, einen nach dem anderen.“

Ich gab ihm ein Versprechen, leise wie ein Butterblümchen aber majestätisch wie eine Rose, dessen Zeit zum Blühen erst noch bevorsteht. Wir gingen in unsere Betten und während mein Bruder schnarchend vor sich hinsang, dachte ich noch lange über unser Gespräch und mein Versprechen nach.

Am nächsten Morgen ging ich müde, aber erwartungsvoll in den Frühstücksraum. 10 Bewohner sind wir, jeder hat seinen festen Platz, seine festen Rituale. Ab und an durchbrochen durch das Halali der Betreuungskraft. Ich fing an mir Gedanken zu machen. Wer war die Dame dort am Fenster dessen Blick immer nach draußen gerichtet ist, oder der ältere Herr rechts von mir an dem kleinen Einzeltisch, der viel zu klein für die Tageszeitung wirkt? Ich wusste es nicht, hatte man sie mir jemals vorgestellt? Mein Blick wanderte durch den Raum und blieb an meinem Bruder hängen...Ich hatte keine Zeit zu verlieren, wenn ich ihm helfen wollte.

Den ganzen Vormittag nutze ich also, um mit den einzelnen Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Ich war erstaunt, wie gut das funktionierte und wie viele Gemeinsamkeiten wir feststellten. Ich hatte bei meiner Mission Sternenrettung plötzlich eine Menge Spaß, das mulmige Gefühl des Fremden verschwand mit jedem Gespräch mehr. Wenn ich mir nicht mehr sicher war, ob ich mit dem einen oder anderen bereits Kontakt hatte, ging ich einfach noch einmal zu ihm – Doppeltgemoppelt hält ja eh besser!

Ich erfuhr auf meinem Rundgang eine Menge, die mir vorher verborgen blieb. Die Dame dort am Fenster, Luise, sie würde so gerne mal wieder im Garten sitzen und die Vögel füttern, die sie immer durch das Fenster beobachtet. Der lange Winter hat auch ihr sehr zugesetzt. Ihre 3 Kinder hat sie zuletzt an ihrem Einzugstag vor 5 Jahren gesehen. „Sie rufen an, haben sie gesagt. Ich warte jeden Tag darauf das mein Telefon klingelt. Bald, bald wird es sicher geschehen.“

Und sie ist nicht allein damit, auch Fritz, der den Kontakt zur Außenwelt versucht durch die Tageszeitung zu halten, Heidemarie, Charly und all die anderen auf unserem Wohnbereich, sie alle wünschen sich so sehr den Frühling des Lebens zurück und das helle Leuchten der Sterne. Ein bisschen Sonnenschein im Alltagsgrau der Station, zwischen Essensausgabe, Medikamenten und Pflege. Nirgendwo scheint die Zeit schneller zu vergehen als hier und doch fühlt sie sich so sehr nach Stillstand an.

Mir wurde immer bewusster, ich muss etwas ändern – für mich, für meinen Bruder und für den Rest der Gruppe. Wenn ich doch nur nicht immer vergessen würde, was ich eben noch wollte. Den Nachmittag verbrachte ich mit dem mühsamen Ausschneiden der Sterne aus gelben Tonkarton, nicht wissend wie Sterne eigentlich auf dem Papier aussehen müssen. Der Tonkarton reichte lange nicht für all die besonderen Sterne und so nahm ich einfach andersfarbigen Tonkarton dazu. Gelb, Orange, Grün - Einen für jeden Namen, einen für jeden Wunsch und einen dafür was jeder an dem anderen gut findet. Die Sonne legte sich bereits Schlafen als ich endlich fertig war. Ich sah zu meinen Händen, die Schere hatte sich tief in meine krummen Finger gegraben. Aber ich blickte nicht voll Schmerz auf sie, sondern voller Stolz. Diese krummen, tattrigen Finger hatten Großes bewirkt in den letzten Stunden. Als alles schlief ging ich auf den Flur. Die Nachtschwester spielte im Bereitschaftszimmer am Computer und konnte mich nicht sehen. Nach und nach füllte sich die kahle weiße Wand des Flures mit den Sternen, die so viel mehr waren als bekritzeltes Papier. Da ich keinen Klebestreifen hatte, nutzte ich einfach den Kleister, den ich noch in der Abstellkammer fand und der mich fast auch noch mit der Wand verbannt.  

Am nächsten Morgen wurden mein Bruder und ich von einem Stimmengewimmel auf dem Flur geweckt. Vor lauter Müdigkeit hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich in der Nacht ins falsche Bett gegangen war und so wachte ich leicht klebrig Seite an Seite mit meinem Bruder auf. Ich merkte seine warme Schulter an meiner und es fühlte sich so gut an, so geborgen und beschützt. Unwillkürlich fing ich an zu Lächeln und kuschelte mich noch enger an ihn. Ich wusste, ich hatte es geschafft, ich hatte die Sterne vom Himmel auf die Station gebracht. Nicht mehr lange und wir würden gemeinsam davorstehen und all die Sterne gemeinsam betrachten.

Eine halbe Stunde später war es so weit, endlich konnte ich ihm unseren ganz persönlichen Himmel an der Flurwand zeigen. Zunächst stand er einfach nur da. Sein Blick wanderte von einem Stern zum Nächsten, ohne dass ich eine Reaktion bei ihm ausmachen konnte. Langsam wurde ich nervös – was, wenn die Sterne seine Seele nicht berührten, wenn er wortlos einfach zu seinem Platz im Essraum ginge?

Er stand einfach da und blickte immer und immer wieder auf die mehr rund als eckigen Sternversuche aus buntem Tonpapier mit dieser kleinen schiefen Schrift seines Bruders. Sein Bruder war es, der nichts unversucht ließ ihm die Sterne zurückzuholen. Ebendiese waren es die er so liebte, bevor der Winter kam und sie ihm nahm – einen nach dem anderen. Ihm wurde bewusst, dass sein hellster und schönster Stern die ganze Zeit bei ihm war. Und auch wenn er ihn nicht sehen konnte, war er nicht von seiner Seite gewichen. Tränen rannen über sein Gesicht und ein Lächeln umspielte seinen Mund als er sein „kleines Brüderchen“ ganz fest in die Arme schloss. Es war das erste Mal seit langem, dass er wieder die Wärme der Sonne auf seinem Rücken dabei spürte.

Ich fühlte, dass sich etwas in ihm regte, ich hatte das Eis des Winters gebrochen. Langsam wich der Nebel von seiner Seele. „Komm“, sagte ich zu ihm, „lass uns zu den anderen gehen.“ Er nickte nur und doch sah ich ihm seine Vorfreude an, als ich ihn bei der Hand nahm. Der Raum schien heute heller zu sein, alle unterhielten sich als wir reinkamen schon über die Wand, die den Frühling zurückbrachte. Charly drehte Heidemarie fröhlich im Kreis und der sonst so stille Fritz beobachtete gemeinsam mit Luise die Vögel in unserem Garten. Ein Lachen erfüllte den sonst so stillen Raum.

Wir gingen langsam zu unseren Plätzen und zum ersten Mal fühlten wir uns nicht als Fremde. Mein Bruder und ich schoben unsere Tische ganz dicht einander. „So“ sagte er zu mir, als er sich sein Brötchen schmierte, „und jetzt erzählst du mir mal wie du das geschafft hast, uns die Sterne zurückzubringen.“

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