Die gestiefelte Kröte oder der Beginn der Armenspeisung
Als nun der Tag kam, an dem der Bauer starb, teilten sich
seine Söhne das karge Erbe. Der Erstgeborene erhielt den Hof mit der Mühle und
den Acker, der Zweitgeborene den fleißigen Esel und der Jüngste die träge
Schildkröte.
„Tut mir leid,“ sagte der Erstgeborene zum Jüngsten als er
ihm die Schildkröte reichte. Da war der Letztgeborene sehr traurig und begann
jämmerlich zu weinen: „Oh weh, nichts ist schlimmer als dieses faule Vieh. Mein
ältester Bruder wird mit dem Bauernhof und der Mühle bald heiraten und ein bescheidenes,
aber schönes Leben führen können. Der andere hat wenigstens ein Tier auf dem er
durchs Land reiten kann und ich? Ich habe nur eine faule, gefräßige Schildkröte
bekommen, die für nichts gut ist.“
Da kam ihm eine Idee:“ Wenn ich ihm den Panzer wenigstens
abnehmen lassen könnte, den könnte ich dann noch zu Geld machen, dann wäre ich
sie los.“
„Bursche, hör“, die Schildkröte hatte ihm zugehört und
drehte nun langsam ihren Kopf in seine Richtung. „Wenn du Geld brauchst, hilft
dir nicht mein lahmer Panzer, der hat seine besten Tage schon lange hinter sich
gelassen. Ich habe da eine viel bessere Idee! Lass mir ein Paar Stiefel
fertigen, sodass ich ausgehen kann zur feinen Gesellschaft. Du wirst schon
sehen, wie schnell deine Truhe sich füllt.“ Die Schildkröte funkelte ihn aus
ihren Augen heraus an. „Wie lange willst du noch hier stehen und herumtrödeln?“
Der Bauernsohn glaubte nicht was er sah. Eine Schildköte die
sprechen konnte? Das letzte Glas Wein gestern Abend muss eins zu viel gewesen
sein. Der Schumacher liegt auf dem Weg, dachte er bei sich, ihn zu fragen kann
ja nicht schaden. Als er den Preis für das Paar Stiefel hörte, wurde ihm ganz
anders. „Sollte ich wirklich mein letztes Geld für dieses nutzlose Vieh
hergeben?“ Die Schildkröte muss seine Gedanken geahnt haben, denn sie wendete
sich einem paar Gummistiefeln zu, die verloren in einer Pfütze standen. „Passen
perfekt, es kann los gehen!“ Alsdann
schwang sie sich ihren Brotbeutel über den Panzer, forderte von ihrem Besitzer
2 Goldtaler für den Buskarren ein und machte sich schließlich auf den Weg.
Zu dieser Zeit regierte ein alter, aber gnädiger König das
Land. Sein Bart war weiß wie das Mehl der Mühle und er liebte Torten über
alles. Eines Tages brach am Hofe große Not aus, denn der Hofbäcker brach sich
beim Hühnerfangen beide Arme und konnte keine leckeren Torten und ausgefallenen
Törtchen mehr zu Hofe bringen. So weinte der arme König tagein, tagaus ohne
sich um sein Land zu kümmern. „Es ist aus mit mir, oh meine geliebten
Cremeschnittchen, ich werde immer magerer, seht nur Untertanen, das ist mein
Ende!!!“ Der Weg zum Thron war bereits gepflastert mit Taschentüchern und so
schickte er die besten Bäcker des Landes in die Backstube des Hofbäckers. Sie
sollten seinen Hunger stillen und ihm seine geliebten Torten servieren. Es
kamen Bäcker von fern und nah, doch mehr als einen Streuselkuchen konnten sie
ihm nicht backen. Einmal dachte einer, er hätte es geschafft. Doch der König
ließ ihn ungesehen in den Kerker werfen, denn seine überaus feine
Buttercremetorte war nur ein Klumpen Butter mit einer Erdbeere drauf und nicht
annähernd so delikat wie eine echte Torte.
Die Schildkröte hatte dem Schauspiel von seinem Versteck aus
zugesehen. Sie lag gemütlich unter dem großen Tisch in der Backstube und freute
sich der Dummheit der Bäckergesellen. War doch nun ihre große Stunde gekommen.
Da sie tagsüber bei der Arbeit des Bauern immer einschlief, konnte sie nachts
nicht schlafen. So wanderte sie immer durch die Mühle und las dabei so manch
interessantes Backbuch. Als der Letzte die Backstube verlassen hatte, machte
sie sich auf die Suche nach den passenden Zutaten für ihre süße Kreation. Sie
knetete und mischte und backte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen bewunderte
sie stolz ihr Werk – eine dreistöckige Schokoladentorte mit flüssigem
Kirschkern und Kaffeebohnen als Dekoration. Die Schildkröte lachte zufrieden,
als sie die Torte auf ihrem Panzer festband, um sie zu Hofe zu tragen. Die
Backstube lag zu Fuße des Schlosses und so verwunderte es nicht, dass die arme
Schildkröte bis zur Abenddämmerung brauchte, bis sie völlig erschöpft an den
Schlosswachen vorbeikroch. „Alte Kröte wohin des Wegs?“ „Herr Wachmeister, ich
bin auf dem Weg zum König. Ich habe eine delikate Überraschung für ihn.“ Die
Wachen lachten laut bei den Worten der Schildkröte. „Wenn du zähes Vieh delikat
bist, fresse ich meinen Sperr auf. Aber geh ruhig, vielleicht hört der König
dann mal auf zu weinen, wenn er abgelenkt ist.“ „Schönes Kissen hast du da auf
deinem Rücken,“ spottete ein zweiter Wachmann, der nicht glauben konnte, dass
die Torte auf ihrem Rücken echt sein sollte.
Das Schloss war größer als gedacht und die Torte drückte
schwer auf den Panzer. Beim König angekommen, schnallte sie sich die Torte vom
Rücken und machte keuchend und nach Luft ringend eine Verbeugung vor ihm.
„Junge, Junge erstick mir nicht, solange ich nicht weiß was dich zu mir führt,“
rief der König sorgenvoll ohne auf die Torte neben ihr zu achten. „Werter
König, mein Herr der Graf Carrabas lässt sich empfehlen. Er sandte mich ihnen dieses
Meisterwerk höfischer Backkunst zu übergeben, die er unter erschwerten
Bedingungen extra für eure Majestät fertigte. Ich garantiere ihnen, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum
dieses Schokoladentraumes noch nicht überschritten wurde und wünsche ihnen
einen guten Appetit.“
Der König staunte beim Anblick der Torte, welche ihm das
Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. „Oh welch eine Freude, eine wahrhaft königliche
Torte“, vor Freude warf er sein zuvor benutztes Taschentuch so hoch in die
Luft, dass es auf der Schildkröte zum Liegen kam. „Man gebe der Schildkröte so
viel Gold wie sie nur tragen kann für den Grafen mit, los seid ja nicht geizig,
der Bäcker um die Ecke bekam sonst auch immer ein saftiges Trinkgeld.
Währenddessen saß ihr Besitzer unten im Dorf im Wirtshaus
und betrank seinen Kummer. „Nichts als eine faule Kröte haben sie mir gelassen,
ich armer Wicht bin von Gott und der Welt verloren!“ Da sprang mit einem Satz
die Türe auf und die Schildkröte trat ein. „Na ist das ein Benehmen, dass einem
Grafen geziemt? Hier hast du dein Gold! Bestell mir einen Fencheltee und ich
erzähl dir alles.“ Der Herr schaute auf das Gold. „Ist das alles meins?“ „Ja
sicher, ich kann es nicht gebrauchen!“ Inzwischen brachte die Wirtin das Wasser
für den Tee. Unsicher schaute sie erst die Schildkröte, dann den armen
Bauernsohn an und ging kopfschüttelnd von dannen. Die Schildkröte zog sich
seine Gummistiefel aus und legte sich eine Socke in das heiße Wasser mit dem
Tee. „Puh was stinkt hier so!“ Nach und nach entfernten sich die andern Gäste
aus der kleinen Wirtsstube.
„Das würzige Aroma der weiten Welt liegt in der Luft, was
meist du?“
„Ich meine schon
lange nicht mehr.“
„Ich schon,“ langsam nahm die Schildkröte einen Schluck Tee
bevor sie weitersprach. „Ich meine, du solltest noch reicher werden und dich
dann für andere einsetzen, denen es genauso geht wie dir gerade!“
„Was hab ich schon zu geben, außer mein letztes Geld!“
„Vertrauest du mir?“
„Habe ich eine andere Wahl“, fragend schaute er seine
Schildkröte an. Vielleicht war sie doch nicht so unnütz wie er immer glaubte.
Und so backte die Schildkröte aller Tage herrliche
Cremetorten, feine Obsttörtchen oder die neusten Kreationen aus allen
Herrenländern bis der Hofbäcker wieder selbst backen konnte. Jedes Mal brachte
sie abends ihrem Herrn Gold nach Hause. Aber nicht nur das, auf dem Weg zur
Backstube begegnetet ihr jeden Morgen arme Männer und Frauen, die auf einem Feld
schuften mussten. Sie sahen abgemagert und bleich aus.
„Wer ist euer Herr,“ wollte die Kröte eines Tages wissen.
Während die Männer auf dem Feld sie ungläubig beäugten,
antwortete ihr eine schon ältere, bucklige Frau: „Unser Herr ist ein böser
Zauberer, der sich nicht um uns kümmert. Das ist unser Schicksal, mehr als
trocken Brot und stilles Wasser sind wir nicht wert.“
Betrübt und nachdenklich ging die Schildkröte weiter ihrer
Wege. In der Backstube angekommen grübelte sie den halben Tag, bis ihr eine Idee
kam. „Wenn ich sowieso schon am Backen bin, kann ich für die armen Feldarbeiter
gleich mitbacken,“ kam es ihr in den Sinn. Ab da an, schnallte sie sich die
Torte auf den Panzer und füllte in ihren Beutel mit so vielen frisch gebackene
und mit Käse belegten Brötchen und trockenen Kuchen wie sie nur eben mit ihrem
gebrechlichen Panzer tragen konnte. Bei Hofe war sie angesehen und konnte sich
frei bewegen. Die Hofdamen verwöhnten sie nur so mit Käse, Tomaten oder
Salatblättern, die sie als Belag für ihre Brötchen nutze. Nachdem sie beim
König ihre Torte abgab und das Gold verstaut hatte, machte sie sich auf den Weg
zu den Feldarbeitern.
„Ihr müsst doch hungrig sein, ich habe belegte Brötchen und
Kuchen für euch mitgebracht. Esst so viel ihr könnt!“
Waren sie am Anfang auch skeptisch der milden Gabe der
Schildkröte, fassten sie doch schnell vertrauen zu diesem wunderlichen Tierchen
in Gummistiefeln. All Abendlich warteten sie nun auf sie und die belegten
Brötchen.
„Ich will mit eurem Herren ein Scherzchen wagen. Hört,
morgen werden mein Herr, der König und seine Tochter in der Kutsche hier lang
fahren. Wenn euch der König fragt, wem diese Länder gehören, so antwortet: „Sie
gehören dem Grafen Carrabas, hab ihr mich verstanden?“
Die Feldarbeiten nickten auch wenn es ihnen gar wunderlich
vorkam.
Am Abend setzte sie sich ihrem Herrn gegenüber und sah ihn
ernst an. „Hör zu! Wenn du ein echter Graf werden und anderen Gutes tun
möchtest, dann muss du morgen Abend im Waldsee baden gehen. Das ist kein
Vorschlag, sondern ein Befehl!“ Während sie so sprach zog sie sich die
schwitzigen Gummistiefel aus und warf sie in die Richtung des Herrn, der nicht
auf ihr Worte reagieren wollte.
„Puh du Stinktier, ich geh ja zum See. Aber nur, wenn du
nächstens deine Stiefel draußen vor der Tür stehen lässt!“
„Abgemacht, ich wusste doch, dass das hilft,“ lachte die
Schildkröte und sammelte ihre Stiefel wieder ein.
Die Sonne schimmerte Rotgold am Himmel, als ihr Herr sich
ins kalte Wasser begab. Während er so schwamm, klaute die Schildkröte schnell
seine Kleider und versteckte sie hinter einem großen Stein. Gerade rechtzeitig,
denn schon näherte sich die Kutsche des Königs.
„Hey du, was machst du hier in dieser verlassenen Gegend,“
wollte der König wissen, als er die Schildkröte erblickte.
„Majestät, ein großes Unglück ist geschehen. Mein Herr, der
Graf Carrabas, planschte ganz unbesorgt im klaren Wasser, als Diebe ihm seine
Kleider entwendeten. Nun kann er nicht mehr aus dem kalten Wasser entsteigen.“
Der König, der dem Grafen und seiner Schildkröte sehr
verbunden war aufgrund der vorzüglichen Backkünste, ließ dem armen Kerl
sogleich die schönsten Kleider bringen und lud ihn in seine Kutsche ein. Auch
seine Tochter war von dem jungen, gutaussehenden Grafen nicht abgeneigt und
Lächelte verlegen. Nur die Schildkröte hatte die Zeit genutzt vorauszulaufen.
Am Feld und Acker mahnte sie den Arbeitern noch einmal das gestrige zu
wiederholen, wenn der König sie fragte und auch den Waldarbeitern erzählte sie
genau, was sie zu sagen hatten. Da die Schildkröte sprechen konnte und auf
Gummistiefeln ging, hielten sie sie für einen guten Zauberer und gehorchten. So
kam es, dass jeder Arbeiter fleißig seinen Text sagte und der König nicht mehr
aus dem Staunen kam angesichts der prunkvollen Länder des jungen Grafen.
Am Ende des Waldes lag ein großes steinernes Schloss. In
diesem wohnte der böse Zauberer, der Herr über all die Ländereien war. Die
Schildkröte stellte sich ihm mutig entgegen. „Was willst du dummes Vieh, soll
ich dich zu Schildkrötensuppe verarbeiten lassen?“ Der Zauberer blickte
mürrisch auf die Schildkröte herunter.
„Herr Zauberer, ich möchte gar ihre Zauber sehen,“ sprach
sie freundlich. „Das ganze Land lobt ihre Fähigkeiten, aber ich wette sie
können sich nicht in ein großes gefährliches Tier verwandeln.“
Der Zauberer lachte schallend. „Natürlich kann ich das!“ Und
im nächsten Augenblick stand ein Löwe vor der Schildkröte.
„Junge, Junge, beeindruckend,“ lobte sie ihn anerkennend.
„ich bin begeistert ihrer Fähigkeiten. Aber wie sieht es mit unbelebten
Gegenständen aus. Sagen wir…ein Salatblatt?“
Wieder lachte der Zauberer aufgrund des schlechten Scherzes,
den er glaubte die Schildkröte mit ihm trieb. Und so ward aus dem Löwen ein
Salatblatt geworden.
Die Schildkröte gar nicht dumm, hob das Salatblatt auf,
legte es auf sein Brötchen und im Nu war der Zauberer aufgegessen. „Lecker!“
Sie putze sich den Mund ab und ging nach draußen auf die
steinigen Stufen. Es dauerte nicht lange da fuhr die Kutsche des Königs heran.
„Willkommen meine königliche Hoheit in den bescheidenen
Gemächern des Grafen Carrabas,“ begrüßte sie den König und sein Gefolge. Der
arme Bauerssohn führte indes die schöne Prinzessin in den Ballsaal voll Gold
und Edelstein. Nicht lang und am Hofe wurde Hochzeit gefeiert. Als der König
starb, wurde der Graf neuer König und die Schildkröte sein erster Minister. So
konnte sie sich um die Bedürftigen des Landes kümmern. Unten im Schloss
errichtete sie eine Suppenküche, in der täglich frisch gekocht wurde für die
arme Bevölkerung. Morgens stand sie schon in der Frühe in der Backstube, um
allerhand Brötchen, Brot und Kuchen zu zaubern, welche sie mit einem kleinen
Karren tagtäglich von nun an zu den Feldarbeitern trug. Im ganzen Land und weit
darüber hinaus war der König und sein Minister für ihre Großherzigkeit bekannt
und geschätzt. Nicht lange, da führten auch andere Höfe eine Suppenküche ein –
der Beginn der Armenspeisung war geboren.
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